Die ältesten Erwähnungen Sichems finden sich in ägyptischen Texten des 19./18. Jh. v.Chr., wo die Stadt u.a. in den sogenannten Ächtungstexten genannt ist (HTAT, 38). Sie hatte demnach bereits zu Beginn des 2. Jahrtausends v.Chr. überregionale Bedeutung, so dass die Pharaonen zumindest nominell die Kontrolle über sie beanspruchten. Sichem ist einmal in den Amarnabriefen des 14. Jh. v.Chr. genannt (EA 289,23; vgl. HTAT, 141f, Nr. 058), was auf eine zentrale Funktion der Stadt für das Bergland zwischen Jerusalem und der Ebene Jesreel in der Spätbronzezeit weisen könnte. Meist wird angenommen, dass der aus anderen Amarnabriefen bekannte Labaja (akkadisch lab’āya), der zusammen mit seinen Söhnen größere Teile des mittelpalästinischen Berglands kontrollierte, Stadtkönig von Sichem war. Labaja und seine Söhne arbeiteten mit den Hapiru zusammen und bedrohten daher sowohl die Interessen der benachbarten Stadtkönigtümer als auch die ägyptischen Hegemonialansprüche (HTAT, 126−147). Allerdings wird Labaja nie ausdrücklich als König von Sichem bezeichnet, so dass seine genaue Funktion vorerst nicht zweifelsfrei zu klären ist. Die alttestamentlichen Belege zu Sichem finden sich überwiegend in Erzählungen zur Vor- und Frühgeschichte Israels. Abraham baut einen Altar bei Sichem (Gen 12,6-7), Jakob erwirbt ein Landstück bei der Stadt (Gen 33,18-19), muss sich jedoch wegen Auseinandersetzungen seiner Söhne Simeon und Levi mit den Sichemiten aus der Gegend zurückziehen (Gen 34). Dennoch soll er weiterhin Weiderechte bei Sichem besessen haben (Gen 37,12-14). Die Stadt wurde zu Efraim gerechnet, lag aber an der Grenze zu Manasse (Jos 17,7). Nach der Landnahme und der Landverteilung findet in Sichem eine Versammlung der Stämme statt, in der sich Josua auf die Verehrung Jhwhs verpflichtet (Jos 24). Auch das Grab Josefs soll im Gebiet der Stadt liegen (Jos 24,32). Bei und in Sichem spielt die Erzählung vom gescheiterten Königtum Abimelechs (Ri 9). Das Kapitel erwähnt einige Einzelheiten des Stadtbilds. Dazu zählen eine eigens befestigte Akropolis (hebräisch migdal-šekæm; Ri 9,46-47; Ri 9,49), auf der sich ein Tempel für die Gottheit ’el berît („Gott des Bundes“) befand (Ri 9,46), sowie mindestens ein Stadttor (Ri 9,35; Ri 9,40; Ri 9,44). Außerdem ist ein bêt millô’ („Haus der Aufschüttung“) genannt (Ri 9,6; Ri 9,20), das nach dem Erzählzusammenhang ein eigener Stadtteil oder ein Außenbezirk der Stadt gewesen sein muss. In Erzählungen zur Königszeit spielt Sichem lediglich als Ort der Absonderung der zehn nördlichen Stämme vom davidischen Königtum und als erste kurzzeitige Residenz des in diesem Zusammenhang proklamierten Königs Jerobeam I. eine Rolle (1Kön 12). Die Überlieferungen vom Altarbau, vom Landerwerb Jakobs, vom Grab Josefs, vom gescheiterten Königtum Abimelechs und von der zeitlich begrenzten Königsresidenz dienen dazu, Sichem als efraimitisches Gegenstück zum judäischen Hebron herauszustellen (vgl. Gen 13,18; Gen 23; 2Sam 3-5; 2Sam 15). Alttestamentliche Texte zur späteren Königszeit und neuassyrische Dokumente erwähnen die Stadt nach derzeitigem Kenntnisstand nicht. Sichem ist im Alten Testament mehrfach auch als Personenname belegt (Gen 34), wobei Orts- und Personenname teilweise in denselben Erzählzusammenhängen zu finden sind (Gen 33,19; Ri 9,28). Bei der Wiedergabe des Ortsnamens in der LXX ist − selbst innerhalb der Erzählung von Ri 9 − ein unsystematischer Wechsel zwischen Συχεμ und Σικιμα festzustellen, der sich auch in Schriften der hellenistischen und frührömischen Zeit findet (Sir 50,26; Jdt 5,16; Apg 7,16; Josephus). In Gen 33,18 schreibt die LXX von „Salem, Stadt der Sichemiten“. Das Toponym Salem könnte sich auf den im Jubiläenbuch genannten Ort Salem beziehen, der östlich von Sichem liegen soll (Jub 30,1) und mit Sālim (1814.1795) ca. 4 km östlich des alttestamentlichen Sichem (Tell Balaṭā 1769.1798) identifiziert wird. Salem könnte aber auch mit Salem/Jerusalem in Zusammenhang zu bringen sein (vgl. Gen 14,18). So scheint Eusebius die LXX-Version von Gen 33,18 zu verstehen, wenn er Salem mit Sichem identifiziert und zusammen mit anderen Orten aus Gen 14 bespricht (Onomastikon 150,1f). Folgt man dieser Interpretation, so kauft Jakob sein Landstück nicht bei Sichem, sondern bei Jerusalem. Die Jos 24 erzählte Versammlung findet nach der LXX nicht in Sichem, sondern in Schilo (Σηλω) statt. Die LXX-Versionen von Gen 33,18 und Jos 24 sind vermutlich auf antisamaritanische Tendenzen zurückzuführen. In spätpersischer Zeit (4. Jh. v.Chr.) wurde auf dem Berg Garizim westlich von Sichem bei der Ḫirbet Lōze (1758.1785) ein Heiligtum errichtet, das die Anfänge der samaritanischen Gemeinde markiert (NEAEHL 5, 1742−1748). In hellenistischer Zeit (3./2. Jh. v.Chr.) wurde um den Kultplatz eine größere Siedlung errichtet. Die Verlegung des lokalen Haftpunkts von Sichem nach Salem/Jerusalem bzw. nach Schilo in den Traditionen vom Landkauf Jakobs und von der Stämmeversammlung unter Josua polemisieren möglicherweise gegen die kultische Legitimität des samaritanischen Heiligtums. Die Anlagen auf dem Garizim wurden ebenso wie die Stadt Sichem 107 v.Chr. von Johannes Hyrkan zerstört. In neutestamentlicher Zeit scheint Sychar eine Art Nachfolgesiedlung gewesen zu sein (Joh 4,5), bevor Vespasian im Jahr 72 v.Chr. am Fuß des Garizim, angeblich an der Stelle eines Dorfes namens Μαβαρθα (Josephus, bellum 4,449), die Siedlung Flavia Neapolis errichten ließ, deren Name sich in der heutigen Stadt Nāblus (175.181) erhalten hat. Einige spätantike Quellen (Hieronymus, Pilgerberichte) und rabbinische Texte identifizieren Neapolis mit dem alttestamentlichen Sichem. Dagegen unterscheiden Eusebius und die Mosaikkarte von Mādebā zwischen beiden Orten. Eusebius lokalisiert Sichem in den „Außenbezirken“ von Neapolis (ἐν προαστείοις Νέας πόλεως; On. 150,2) und die Mādebā-Karte verzeichnet die alttestamentliche Stadt südlich von Neapolis. Daher ist die Lokalisierung des alttestamentlichen Sichem auf dem ca. 1,5 km südöstlich vom Zentrum der Stadt Nāblus liegenden Tell Balaṭā gesichert. Der Siedlungshügel war vom 4. Jahrtausend v.Chr. bis zum Ende des 2. Jh. v.Chr. besiedelt. In der Mittelbronzezeit II (erste Hälfte des 2. Jahrtausends v.Chr.) wurde eine stark befestigte Stadtanlage errichtet. Sie hatte eine eigens ummauerte Akropolis im Nordwesten, auf der ein ca. 26 x 21 m großer Tempel mit ca. 5 m starken Mauern stand. Das Dach des Tempels wurde von Säulen getragen. Vor dem Eingang standen aufgerichtete Steinmale („Masseben“). Seit dem 17. Jh. v.Chr. war die Stadt mit einer Mauer aus großen unbehauenen („zyklopischen“) Steinen umgeben. Im Nordwesten und im Osten befanden sich Toranlagen. Befestigungen und Tempel wurden in der Spätbronzezeit und in der Eisenzeit I (16.−12/11. Jh. v.Chr.) umgebaut und weiterbenutzt. Im frühen 1. Jahrtausend v.Chr. existierte lediglich eine offene Siedlung, bevor im 9. Jh. v.Chr. die bronzezeitlichen Befestigungsanlagen teilweise wieder repariert wurden. Ein Tempelgebäude ist allerdings aus dieser Zeit nicht nachgewiesen. Das aus den archäologischen Befunden des 2. und frühen 1. Jahrtausends v.Chr. zu erkennende Bild der Stadt scheint in Teilen den Erzählzügen von Ri 9 zu entsprechen. Die Notiz von der Zerstörung zumindest der städtischen Akropolis (Ri 9,49) spricht allerdings dafür, dass die Erzählung erst im Lauf des 1. Jahrtausends v.Chr. entstand, möglicherweise erst nach der Zerstörung der Stadtanlage im Zuge der neuassyrischen Feldzüge am Ende des 8. Jh. v.Chr. Im 7.−5. Jh. v.Chr. scheint der Ort nur zeitweise bewohnt gewesen zu sein. Aus persischer Zeit (5./4. Jh. v.Chr.) sind zumindest Keramikfunde bekannt. In hellenistischer Zeit erlebte die Stadt auf dem Tell Balaṭā ebenso wie die Siedlung auf dem Garizim eine neue Blüte, bevor beide Orte am Ende des 2. Jh. v.Chr. endgültig zerstört wurden. Das im Neuen Testament erwähnte Sychar ist östlich von Tell Balaṭā bei ‘Askar (1775.1804) zu suchen. Die römische Siedlung Neapolis wurde westlich des alten Siedlungshügels im Bereich des heutigen Nāblus errichtet. Ab dem 2. Jh. n.Chr. wurde die Heiligtumstradition am Garizim durch die Errichtung eines kleinen Zeus/Jupiter-Heiligtums auf Tell er-Ras (1762.1793), einem dem Garizim östlich vorgelagerten Bergsporn, von römischer Seite her wiederbelebt. Vom Talgrund führten Stufen zu dem Heiligtum hinauf. In Teilen sind sie archäologisch nachgewiesen. Zudem sind Stufen und Tempel auf römischen Münzen abgebildet.
Autor: Detlef Jericke, 2016; letzte Änderung: 2023-12-08 18:39:02